"Kriminelle Fahrlässigkeit":
Eine der wichtigsten ukrainischen Militäreinheiten erleidet den schlimmsten Verlust seit Kriegsbeginn

Ivo Mijnssen, Wien

07.11.2023, 13.07 Uhr

Bei einem russischen Raketenangriff auf eine Feier zur Ehrung von Soldaten der 128. Gebirgssturmbrigade gleich hinter der Front werden Dutzende getötet und verletzt. Gleichzeitig gelingt Kiew auf der Krim ein Prestigeschlag.

Die 128. Gebirgssturmbrigade steht an den exponiertesten Stellen der Front und erleidet seit fast zwei Jahren hohe Verluste.
Stringer/Reuters

Russland hat der ukrainischen Armee am Wochenende einen schmerzlichen Schlag versetzt. Am Freitagmorgen hatten sich etwa 90 Soldaten und Offiziere der 128. Gebirgssturmbrigade 20 Kilometer hinter der Front unter freiem Himmel versammelt. Mitglieder der Einheit, die seit fast zwei Jahren Positionen im Südosten hält, sollten anlässlich des "Tages der Raketenstreitkräfte und der Artillerie" Orden erhalten. Dann schlugen zwei russische Raketen kurz nacheinander ein.

Auf ihrem Telegram-Kanal bestätigte die Brigade am Montagmorgen 19 Todesopfer. Inoffiziell ist darüber hinaus von 33 Verletzten die Rede. "Unsere besten Kämpfer sind umgekommen", schreibt die Einheit. "Wir versprechen, unsere Brüder hundertfach zu rächen."

Kartengrundlage: © Openstreetmap, © Maptiler
Stand: 03. 11. 2023
NZZ / mij.

Die Kommandanten handelten naiv

Videos zeigen auf der Strasse verstreute Leichen und brennende Fahrzeuge der Einheit, welche diese Zeitung mehrfach besucht hat. Unter den Toten ist ein Oberst, der bis zu seiner Entlassung durch den Präsidenten im August das Aushebungsamt von Chmelnizki leitete. Auch einer der bekanntesten Artilleristen des Landes kam ums Leben.

Da die Führung der 128. Brigade und für eine Auszeichnung vorgesehene Armeeangehörige versammelt waren, bedeutet der russische Angriff besonders für die Artillerie der Einheit einen schweren Verlust. Für ihre gesamthaft ungefähr 9000 Kämpferinnen und Kämpfer ist es der Tag mit den höchsten Verlusten seit Beginn der russischen Invasion.

In Transkarpatien, der westukrainischen Heimatregion der 128. Gebirgssturmbrigade, wurde eine dreitägige Staatstrauer ausgerufen. Daneben ist aber Wut die vorherrschende Emotion, und diese richtet sich nicht nur gegen den Feind, sondern auch gegen die eigene Armeeführung. Mitglieder der Brigade äusserten sich fassungslos über die Unvorsichtigkeit und Dummheit der Kommandanten. Der ukrainische Journalist Denis Kasanski sprach von "krimineller Fahrlässigkeit, die Menschen das Leben kostet".

Dass am Abend auch Wolodimir Selenski öffentlich über den Vorfall sprach, ist äusserst ungewöhnlich und illustriert das Ausmass des Ärgers in der Bevölkerung. "Diese Tragödie hätte vermieden werden können", sagte der Präsident, als er den Familien der Gefallenen kondolierte. Nachlässigkeit, Bürokratismus und sowjetische Traditionen hinderten die Streitkräfte daran, ihr Potenzial zu entfalten. Der Brigade-Kommandant, so Selenski, sei suspendiert worden. Laut Militärquellen hatte er sich verspätet; die Armeeangehörigen wurden getroffen, während sie auf ihn warteten.

Präsident Selenski unterschreibt bei einem Besuch im August dieses Jahres eine Flagge für die 128. Gebirgssturmbrigade.
Imago / Pool / Ukrainian Presidency

Tatsächlich ist schwer verständlich, dass das Kommando nach fast zwei Jahren Krieg derart unvorsichtig handelte. Jeder Soldat weiss, dass die Drohnen beider Seiten kilometerweit hinter die Front blicken und Artillerie- oder Raketenangriffe koordinieren. Womöglich hatten die Russen aber bereits vorab Wind von der über interne Messenger-Gruppen angekündigten Ehrung bekommen und deshalb ihre Iskander-Rakete schon kurz nach Beginn abfeuern können.

Beunruhigen muss Kiew, dass Moskau besser darin wird, gezielte Attacken gegen das Hinterland auszuführen. Solche Angriffe waren bisher die Stärke der Ukrainer. So erinnert der Angriff vom Freitag an den verheerenden Beschuss einer Division von Russlands 20. Gardearmee durch Himars-Raketen im Juni, bei dem bis zu hundert Armeeangehörige umkamen. Sie hatten auf die Motivationsrede ihres Kommandanten gewartet.

Beschädigung eines der modernsten russischen Kampfschiffe

Immerhin konnten die Ukrainer am Wochenende auch zeigen, dass sie weiterhin zu spektakulären Schlägen fähig sind. Wie das russische Verteidigungsministerium bestätigte, beschädigten zwei Marschflugkörper, mutmasslich des Typs Storm Shadow / Scalp, eine Werft in der Stadt Kertsch. Sie liegt im äussersten Osten der besetzten Halbinsel Krim. Laut Moskau wurde dabei ein Schiff beschädigt.

Satellitenbilder und Videos zeigen eine grosse Explosion, welche die auf Dock liegende Korvette "Askold" der Karakurt-Klasse schwer beschädigte. Sie ist eines der modernsten Schiffe der russischen Flotte und kann auch Raketen des Typs Kalibr und Onyx abschiessen. Der Osten der Krim galt bisher als relativ sicher, weil er 300 Kilometer von ukrainischen Positionen entfernt liegt. Ein Teil der Schwarzmeerflotte wurde deshalb aus der exponierten Hafenstadt Sewastopol hierhin verlegt.

Nun hat Kiew möglicherweise Mittel gefunden, die Reichweite der vom Westen gelieferten Waffen zu vergrössern. Zu zeigen, dass die Ukrainer die Russen strategisch schwächen können, ist umso bedeutsamer, als Europa und die USA durch den Krieg in Gaza abgelenkt sind.

Die Erfolgsmeldungen sind auch innenpolitisch wichtig. Die Tragödie in Saporischja folgt nämlich auf turbulente Tage mit mehreren Artikeln, die Meinungsverschiedenheiten zwischen der politischen und der militärischen Führung offenlegen. So diskutierte der Oberkommandierende Waleri Saluschni schonungslos die Gründe für den ausbleibenden Erfolg der ukrainischen Offensive.

Präsident Wolodimir Selenski widersprach Saluschni daraufhin offen und betonte, an der Front herrsche kein Patt. Das Büro des Präsidenten forderte den General auf, keine weiteren öffentlichen Erklärungen über den Stand des Krieges abzugeben. Die Angst, dass die über fast zwei Jahre gehegte ukrainische Einheitsfront auseinanderbrechen könnte, ist zurück.


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